ICE - Unglück: Ein Gang

Die Straße überquert von Eschede kommend die Eisenbahnschienen. Rechts erscheint unübersehbar der Torbogen mit der Inschrift, die in knapper Weise das unbegreifliche Geschehen vom 3. Juni 1998 in Worte zu fassen sucht. Vom Plateau überblickt man die gesamte Gedenkstätte: Brücke, Schienen, ein Treppenstumpf, das Tor, der Weg hinab zu den 101 Kirschbäumen, die naturbegrünte Einbettung der Gedenkstätte in Wegeböschungen.

 

Im Rücken die unmittelbar an die Gleise angrenzenden Häuser Eschedes weitet sich der Blick nach Westen über Felder und Wiesen hin zu den Wäldern von Rebberlah. Wer mag, lässt sich auf den Weg ein, den die Gedenkstätte vorgibt.

 

Nachdem man den Text am Tor gelesen hat, richten sich die Schritte durch das Tor hindurch auf den Weg aus, der parallel zu den Bahngleisen die Gedenkstätte durchzieht.

 

Diese Parallelität ist gewollt: Wer der Katastrophe nachdenken will, muss sich auf die Richtung des Zuges einlassen. Im Torbogen stehend wird diese Perspektive deutlich. Der Betrachter lässt sich konzentrieren, auf das Geschehen ausrichten. Nach ein paar Metern führt eine Treppe steil die Böschung hinab. Der Besucher verlässt die Ebene der Betrachtung und begibt sich auf eine Stufe mit Bahn, Gleisen, Opfern. Die Treppe führt nach unten.

 

Am Fuß der Böschung betritt man einen Kirschgarten.


Landschaftstypisch ist eine Ruhezone gestaltet. Der Weg durchschneidet sie und findet am Rande der Bäume sein symbolisches Ende: 101 Kirschbäume verweisen auf 101 getötete Opfer. Zugleich aber können das Grün dieser Bäume, die im Juni roten Früchte und das schützende Laubdach der ineinander greifenden Kronen Hinweis darauf sein, dass Besucher und vom Unglück unmittelbar Betroffene in eine Gemeinschaft untereinander gestellt sind. Die Bäume bieten Schutz und schaffen zugleich ein Raumgefühl, das zum Verweilen einlädt.

 

Inmitten der Bäume, erneut parallel zum Weg, befindet sich die steinerne Stele mit den Namen der Getöteten. Mit ihren über acht Metern Länge und einer Höhe von 2,10 Metern verstellt sie den Blick auf die Gleise - schützt für einen Moment des Gedenkens zumindest optisch vor dem Anblick der Gleise und der neuen Brücke. Sie bietet der Trauer um die Getöteten die Intimität, die Trauer braucht.

 

Neben den Namen der Getöteten stehen ihre Geburtsdaten und Herkunftsorte: Menschen unterschiedlichen Alters und verschiedenster Herkunft wurden zu einer "Schicksalsgemeinschaft" - so ein Hinterbliebener - vereint. Steinblöcke vor der Stele bieten die Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen oder Blumen abzulegen.

 

Der gerade Weg - vom Torbogen hinab auf die Geschehensebene der Gleise - wird im Kirschgarten überlagert von einer Spur, die unter den Bäumen ihren eigenen Weg sucht. Sie geht an den Bäumen entlang, öffnet immer neue Perspektiven auf das Geschehen und führt gen Norden aus der Gedenkstätte weg erneut parallel zu den Gleisen hin zum Bahnhof Eschedes.

 

In umgekehrter Richtung mündet die Spur am Fuß der Böschung erneut in den geraden Weg ein und fordert dazu auf, über die Treppe die Ebene des Geschehens zu verlassen, bergan, treppauf, hin zum Tor. Die Treppe ist steil und lang. Es ist nicht leicht, aus der Erinnerung an die Katastrophe und die Opfer heraus- und hinauf zu steigen.


Wohin?

 

Je höher man steigt, umso deutlicher wird das Tor. Erneut wird die Perspektive konzentriert und begrenzt. Durch das Tor hindurch fällt der Blick auf den Treppenstumpf auf der anderen Straßenseite. Vier überdimensionierte Stufen ragen in den Himmel, lassen den Weg auslaufen, himmelwärts. Wer mag, sieht darin eine Perspektive oder das Symbol für die Unabschließbarkeit der Fragen, die die Katastrophe stellt. Im Tor kann man verweilen - wie in einer Kapelle - die Sicht gegen Brücke und Gleise abgeschirmt, die Tiefe des Geschehens im Rücken, den offenen Himmel, eine noch unbeschriebene Zukunft vor sich ...

 

Auf dem Plateau angelangt laden die Granitblöcke ein zum abschließenden Innehalten ein.

 

Ein letzter Blick.

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