Geschichte/n: Raubmord

Am 21. Juni 1892 machte Lehrer Leunig, der seit dem Oktober des Vorjahres in Dalle die Schulstelle bekleidete, einen längeren Eintrag in der Schulchronik. Er schilderte ein Verbrechen, das wenige Monate zuvor die Bevölkerung der Heide erschüttert hatte: "Etwa zwei Jahre sind nach jenem schauerlichen Ereignis verflossen, welches unsere friedliche Gegend in namenlosen Schrecken versetzte. Am 13. August 1890 traf eine sogenannte Stellenvermittlerin, Buntrock mit Namen, in Begleitung eines etwa 17jährigen Mädchens, Dora Klages genannt und aus Hameln gebürtig, mit dem Vormittagszuge in Eschede ein. In die Gerecht'sche Gastwirtschaft trat mit ihnen zugleich eine mit demselben Zuge angekommene Mannsperson ein, welche der Buntrock anscheinend unbekannt war, in Wahrheit jedoch von dieser zur Mithilfe an dem zu schildernden Ereignisse bestellt worden war. "Erbe" war der Name dieser Bestie in Menschengestalt.

 

Unter dem Vorgeben, die nach Eschede verschleppte Klages nach Lohe in Stellung bringen zu wollen, verließ B. mit ihrem Opfer die Wirtschaft. Bald nach ihr entfernte auch Erbe sich, um auf einem Umwege wieder mit ihnen zusammenzutreffen. Jetzt knüpfte E. eine Unterredung mit ihnen an und gab vor, zufällig eines Weges mit ihnen gehen zu müssen. So waren die drei unter gleichgültigen Gesprächen in die Nähe das an unseren Kirchweg stoßenden Sumpfes gelangt. Hier äußerte E. den Wunsch, ein wenig ausruhen zu dürfen, da er noch unter dem Eindruck einer eben überstandenen Krankheit stehe und müde geworden sei. Man war natürlich gern bereit dazu und begab sich in den Schatten einer etwa 30 Schritte links vom Wege stehenden doppelten Kiefer. Auf ein gegebenes Zeichen wurde nun Dora Kl., welcher man einen Platz zwischen B. und E. gegeben hatte, von beiden überfallen und in grauenerregender Weise ermordet. Nachdem B. ihr Opfer entkleidet und ein Grab gegraben hatte, wurde die Leiche beigescharrt und die Spuren, welche die That hinterlassen, sauber verwischt.

 

Einer ähnlichen Mordthat wegen wurden B. und E. bald nachher in Magdeburg festgenommen, und im Gefängnis legte B. angeblich aus Haß gegen E. ein Geständnis auch dieses Mordes ab. Zur Auffindung des Thatortes wurde sie zweimal nach hier gebracht. Allein es gelang ihr nicht, den Ort aufzufinden. Mehrere Wochen nachher, im März des Jahres fand der Briefbote Eggers die Stelle. Man grub die Leiche aus und vertraute die Gebeine dem Friedhof in Eschede an."

 

Dora Klages, das arme Opfer des Raubmörderpaares Dorothee Buntrock und Fritz Erbe, hatte sich auf ein Inserat hin gemeldet, das im Laufe des Jahres 1890 in verschiedenen norddeutschen Zeitungen erschienen war. Darin wurde von einem gräflichen Ehepaar eine Reisebegleiterin bei hohem Gehalt und guter Verpflegung gesucht. Dorothee Buntrock, 1856 in Holzminden geboren und als Lehrerin der Wäschezuschneiderei in Osnabrück tätig, trat als angebliche Beauftragte der Grafenfamilie auf.

 

Sie bestellte die jungen Frauen, die sich auf die Anzeige meldeten, entweder nach Hannover oder Magdeburg. Einige der Frauen, denen das Verhalten der Buntrock merkwürdig vorkam, sprangen rechtzeitig ab, zwei fielen auf die Geschichte mit der Grafenfamilie, die angeblich in der Nähe von Neuhaldensleben ein Schloss bewohnte, herein.

 

Im Frühjahr 1890 hatte sich die 30jährige Wirtschafterin Emma Kasten aus Minden in Westfalen mit der Buntrock verabredet, im August war die 17jährige Dora Klages, deren Vater einst das Hotel "Deutsches Haus" in Hameln besaß, zum Besuch der vermeintlichen Adelsfamilie aufgebrochen. Die beiden Frauen verschwanden, alle Anstrengungen der Polizei, das Schicksal der vermissten Personen aufzuklären, blieben vergeblich.

 

Erst im November 1891 herrschte Gewissheit, dass die 30jährige Emma Kasten Opfer eines schweren Verbrechens geworden war: Der Hund eines Waldwärters hatte im Neuhaldenslebener Wald an einer Baumwurzel den Rumpf und in einiger Entfernung Kopf und Glieder der Getöteten freigescharrt.

 

Aussagen junger Frauen, zu denen die Buntrock im Laufe des Jahres 1890 ebenfalls Kontakt aufgenommen hatten, führten am 8. Januar 1892 zur Verhaftung der Täterin in Osnabrück. Bei ihrer Festnahme durch Kriminal-Kommissar Schmidt aus Magdeburg trug sie die Kleider der Emma Kasten. Der aufmerksame Beamte entdeckte in ihren Unterlagen einen Hinweis auf die Mittäterschaft des Fritz Erbe, begab sich sofort nach Bielefeld und konnte dort in einer Gastwirtschaft den bereits mehrfach wegen Betrugs vorbestraften, 1855 geborenen und im Evangelischen Vereinsheim als Glaser tätigen Bekannten der Buntrock verhaften.

 

Anfangs leugnete die Buntrock, doch da viele Beweise gegen sie sprachen, legte sie bald ein Geständnis ab. Als kurze Zeit später bei der Staatsanwaltschaft Magdeburg die Nachricht eintraf, dass sich vor Jahresfrist die 17jährige Dora Klages aufgrund einer Zeitungsannonce nach Hannover begeben habe, um dort bei einer Stellenvermittlerin namens Anna Blume vorzusprechen, entdeckten die Ermittlungsbehörden die auffälligen Parallelen. Schriftvergleiche ergaben, dass die Briefe der angeblichen Anna Blume aus der Feder der Dorothee Buntrock stammten. Wieder leugnete sie, nannte aber später Einzelheiten des Verbrechens vom 25. August 1890 zwischen Eschede und Lohe.

 

Noch fehlte die Leiche der Dora Klages und so ordnete der Staatsanwalt in Magdeburg, der die beiden Fälle bearbeitete, einen Ortstermin bei Eschede an. Die Cellesche Zeitung schrieb in ihrer Ausgabe vom 12. März 1892 in der Rubrik Lokales: "Die Raubmörderin Dorothee Buntrock wurde gestern früh von hier nach Eschede transportirt, um die Stelle aufzusuchen, wo die ermordete Dora Klages aus Hameln verscharrt sein soll. Die Buntrock konnte aber den Thatort nicht mit Bestimmtheit bezeichnen und daher konnte die Leiche nicht gefunden werden. Dieser Mord ist von der Buntrock eingestanden worden, sie behauptete indessen, an dem Tage der That zu angegriffen gewesen zu sein und ihre Gedanken nicht zusammen gehabt zu haben, so daß sie sich nicht recht an die Stelle erinnern könne. Beide Mörder, Erbe und die Buntrock, wollen ihr Opfer auf dem Eschede-Loher Wege etwa 3/4 Stunden von Eschede, links seitwärts ins Holz geführt und hier umgebracht haben. Nach Beendigung des Augenscheintermins wurde die Buntrock, eine ziemlich elegante brünette Person, die sich mit beispielloser Gleichgiltigkeit bewegte, wieder nach Magdeburg zurückgebracht. In Eschede verursachte der Termin ein begreifliches Aufsehen und es hat Mühe genug gekostet, das neugierige Publikum zurückzuhalten. Auch am hiesigen Bahnhofe hatte sich eine große Menge Schaulustiger eingefunden."

 

Genau eine Woche später wurde zweiter Ortstermin durchgeführt, diesmal ohne die Täterin. Die Cellesche Zeitung schrieb noch am selben Tag: "Auf erneute Ordre der Staatsanwaltschaft in Magdeburg wurde heute Morgen in aller Frühe noch einmal bei Eschede nach der Leiche der Dora Klages gesucht und zwar von dem Oberwachtmeister der Gendarmerie des Kreises Celle, dem in Eschede stationirten Gendarmen B. und einem Landbriefträger des dortigen Ortes. Diesmal waren die Nachsuchungen von Erfolg, ungefähr 200 Schritte von der Stelle, an der man in voriger Woche gesucht hatte, fand man die Leiche etwa 1/2 Fuß tief unter der Erde..."

 

Zwei Tage später, am 21. März 1892, berichtete die Cellesche Zeitung über die Leichenschau und nennt erstmals Einzelheiten zum Tathergang: "... An dem besagten Tage, am 25. August 1890, trafen die Buntrock und die Dora Klages aus Hameln in Hannover zusammen, worauf Beide nach Eschede fuhren, in welcher Gegend die Buntrock der Klages eine Stellung versprochen hatte. Die Billets (4. Klasse) hatte die Buntrock gelöst, und Erbe fuhr unbemerkt in demselben Wagen mit. In Eschede begaben sich die Buntrock und die Klages in die nahe am Bahnhof gelegene G.sche Gastwirthsch. und tranken dort Kaffee, wobei auch Erbe erschien und, wie völlig fremd, an einem Nebentische Platz nahm. Darauf gingen beide, ohne Erbe, in der Richtung nach Schelploh weiter. An dem Handweiser, welcher die Wege Lohe und Weyhausen bezeichnet, wurde gerastet und auf einen Mann gewartet, der den richtigen Weg angeben sollte. Dieser Mann, eben Erbe, gesellte sich wie zufällig nun bei, gab den Weg an und ging mit. Unterwegs wurden Brombeeren gepflückt, bis plötzlich das Mörderpaar die Klages überfiel. Die Buntrock stopfte dem Mädchen den Mund zu und hielt es fest, während Erbe dem unglücklichen Opfer mit einem Schlachtermesser den Kopf abschnitt. Während dann Erbe mit einem Kinderspaten das Loch grub, entkleidete die Buntrock die Leiche. Das Loch wurde hierauf mit Erde und Moos zugedeckt. Mit dem Inhalt der vorgefundenen Flasche hat sich das Mörderpaar wahrscheinlich die Hände gewaschen. Die Beute, welche die Mörder durch die furchtbare That erlangten war sehr gering, sie bestand nur aus der Garderobe und 30-40 Pfg. baares Geld. Die Buntrock hat sich auch später noch cynisch geäußert: "Bei der Geschichte sind wir nicht auf die Kosten gekommen." Von Eschede begaben sich die Mörder wieder nach Hannover, wo die Buntrock in der dortigen Entbindungsanstalt 8 Tage später einem Kinde das Leben gab."

 

Dieses Kind war vermutlich der Anlass, dass sich Fritz Erbe und Dorothee Buntrock während des Gerichtsverfahrens, das am 23. Juni 1892 vor dem Schwurgericht des Königlichen Landgerichts in Magdeburg begann, mit Anschuldigungen überhäuften. Erbe erkannte die Vaterschaft nicht an und behauptete, dass ein gewisser Karl Behrens, zu dem die Buntrock Beziehungen unterhalten habe, auch der Mittäter in beiden Fällen gewesen sei. Er selber habe mit den beiden Morden nichts zu tun. Zwar seien die Anzeigen im Hannoverschen Tageblatt von ihm aufgegeben worden, er habe "aber nur einen unsittlichen Verkehr mit einem der sich meldenden Mädchen gewünscht und dann von demselben Geld herauslocken wollen", berichtet die Cellesche Zeitung am 24. Juni 1892.

 

Am zweiten Verhandlungstag wurde Erbe durch mehrere Zeugenaussagen schwer belastet. Geschenke, die er einem Mädchen in Hannover machte, wurden von Schwester und Vater der Dora Klages als das Eigentum der Ermordeten erkannt. Erbe gab an, die Gegenstände von der Buntrock erhalten zu haben.

 

Am folgenden Tag erinnerte sich die Zeugin Gerecht genau, "daß die Mörder und noch ein Mädchen, wahrscheinlich die Klages, an einem Tage im Sommer 1890 um 9 Uhr 40 Minuten vormittags mit dem Zuge in Eschede angekommen seien....Die Leute seien damals in der Wirthschaft ihres Vaters eingekehrt und habe besonders Erbe auf sie einen scheußlichen Eindruck gemacht."

 

Erbe hielt weiterhin an seiner Version fest, dass er am 13. August nicht in Eschede gewesen sei, sondern in Hannover Lose verkauft habe. Landgerichtsrat Polte ging auf einige Anträge der Verteidigung ein, ließ weitere Zeugen zu, machte aber später deutlich, dass er die Aussagen der zum Teil mehrfach Vorbestraften nicht anerkenne.


Dorothee Buntrock schilderte dem Gericht den genauen Tatverlauf der beiden Verbrechen. Sie habe den beiden Frauen einen Knebel in den Mund geschoben, dann habe Fritz Erbe den Überfallenen mit einem Schlachtermesser den Kopf abgetrennt. Dora Klages wurde vor der Ermordung außerdem von Fritz Erbe im Beisein der Buntrock vergewaltigt.

 

Der Emma Kasten wurden Finger und Ohrläppchen abgeschnitten um schneller an die Schmuckstücke zu kommen. Die Leichen wurden entkleidet, denn auf die Bekleidung hatte es das Raubmörderpaar im wesentlichen abgesehen. So soll die Buntrock vor dem Gericht wörtlich gesagt haben: "Sie hatten so schöne Sachen an, und da konnte ich nicht widerstehen."

 

Die Gerichtsverhandlung in Magdeburg ergab, dass etwa zwölf Mädchen aufgrund der Inserate Kontakt mit Dorothee Buntrock aufgenommen hatten. Eine junge Frau hatte Verdacht geschöpft, und ihre Beobachtungen führten Monate später zur Festnahme der beiden Verbrecher.

 

In seinem Schlussplädoyer deutete Staatsanwalt Maizier an, dass die Angeklagten noch weitere Morde begangen hätten, allerdings gäbe es in diesen Fällen keine hinreichenden Beweise. Am 29. Juni 1892 erklärten die Geschworenen die beiden Angeklagten wegen zweifachen Raubmordes für schuldig. Daraufhin verhängte das Gericht gegen beide die Todesstrafe.

 

Ein knappes Jahr später starben die Verurteilten unter dem Beil des preußischen Scharfrichters Friedrich Wilhelm Reindel. So wurde im Sterberegister des Standesamtes Magdeburg-Altstadt unter der Nummer 804 festgehalten: "Magdeburg, den 25. Mai 1893. Auf schriftliche Anzeige des Königlichen Ersten Staatsanwalts hierselbst wird eingetragen, daß Dorothee Buntrock, Schneiderin, 32 Jahre alt, evangelischer Religion, wohnhaft zu Hannover, geboren zu Holzminden, unverheiratet, Tochter des Tapezierers August Buntrock und dessen Ehefrau Marie Luise geborene Hildebrandt genannt Wegener, beide verstorben, zu Magdeburg im Gerichtsgefängnis am vierundzwanzigsten Mai Eintausenachthundertneunzigunddrei, vormittags um sechs verstorben ist. Der Standesbeamte gez. Unterschrift."

 

Dora Klages war nach der gerichtsmedizinischen Untersuchung auf dem Escheder Friedhof beigesetzt worden. Die Cellesche Zeitung berichtete am 22. März 1892: "Eine ergreifende Trauerfeier beging man gestern in Eschede. Es galt, die Überreste der gemordeten Dora Klages aus Hameln in geweihter Erde zu bestatten. Und als ob die ganze Gegend sich verpflichtet hielte, die dem unglücklichen Mädchen daselbst widerfahrene zum Himmel schreiende Unbill gut zu machen, so fand die Trauerfeier eine Betheiligung, wie man sie bislang selten dort gesehen. Den von der Gemeinde gestellten Sarg zierte reicher Blumenschmuck, der von allen Seiten herbeigebracht worden war, und dem entsprach auch das große Trauergefolge von über 200 Personen. Am Grabe auf dem Escheder Kirchhofe waren alle tief bewegt, als der Seelsorger der Gemeinde dem Andenken des armen Opfers menschlicher Verworfenheit und fluchwürdiger Habsucht ergreifende und zu Herzen gehende Worte christlicher Liebe nachrief. ..."

 

Heute ist neben der Escheder Kirche der Grabstein zu finden, der einst das Grab der Dora Klages schmückte. Darauf steht:

 

Hier ruht in Gott
Dora Klages
geb. zu Hameln 22. März 1873
ermordet, beraubt
im Walde bei Eschede
am 13. August 1890
aufgefunden und begraben
am 21. März 1892

 

Und auf der Rückseite des Steins ist festgehalten:

 

Unter kalten Mörderhänden
Mußte sie ihr Leben enden
Ein traurig Los war ihr beschieden
Nun ruht sie fest in Gottes Frieden

 

Und auch heute noch, mehr als 110 Jahre nach der Tat, kennzeichnet ein kleiner, unscheinbarer Gedenkstein die Mordstelle unweit des Loher Weges.

 

Den Mord an Dora Klages griffen Petra Georgi und Ed Gatzke in ihrer Moritat "Das raubmörderische Paar Dorothee Buntrock und Fritz Erbe oder wie durch menschliche Verworfenheit und fluchwürdige Habsucht der Dora Klages eine himmelschreiende Unbill widerfuhr." Zum Bahnhofsfest am 3. Mai 1997 brachten die beiden Bänkelsänger ihr Werk dem geneigten Publikum zu Gehör.

 

Joachim Gries

Die Raubmörderin, Dorothee Buntrock
Fritz Erbe
Das Grab der Dora Klages auf dem Escheder Friedhof